Was ist ein Trauma


Ein Trauma ist eine Wunde. Wie eine leibliche Verletzung unterschiedliche Grade haben kann, so gibt es auch tiefe seelische Wunden durch schwere Erlebnisse. Diese können das Leben aus der Bahn werfen oder gefährden.

Wenn wir uns in der Küche mit einem Messer in den Finger schneiden, genügt es meist ein Pflaster darauf zu kleben. Nach wenigen Tagen ist die Wunde abgeheilt und wir können den Finger wieder wie gewohnt benutzen. Andere Verletzungen sind tiefer, sie können eitern, eine Blutvergiftung erzeugen, manchmal muss operiert werden. Bleibende Einschränkungen, Invalidität oder gar Tod können die Folge sein.

So ist es auch mit der menschlichen Seele: Viele seelische Verletzungen, wie ein falscher Blick, eine unpassende Bemerkung oder eine Missachtung heilen ohne Folgen ab. Wir verstehen die Situation, vergessen, verzeihen und verarbeiten. Anderes kann uns lange quälen; wir können mit dem Menschen, der uns verletzt hat, nicht mehr sprechen, meiden seinen Kontakt, unsere Selbstsicherheit ihm gegenüber kann Schaden nehmen. Sie gefährden aber trotzdem nicht unsere Weltsicht, unsere wichtigeren Beziehungen und Tätigkeiten.

Neben diesen gibt es jedoch seelische Verletzungen, die alles im Leben verändern, so dass nichts mehr ist, wie es vorher war. Unsere Biographie kann daran zerbrechen, unser Verhalten verändert sich, unser Selbst- und Weltbild zerbricht, alle Sicherheit schwindet, wir werden krank oder verlieren allen Lebenswillen.

Es gibt unterschiedliche Arten von Traumata:

  • Trauma Typ-1: Dieser liegt vor, wenn es sich um ein kurzes, akutes und begrenztes traumatisches Ereignis handelt, z. B. einen Unfall, den Tod eines nahen Angehörigen oder ein Kriegserlebnis. Diese Traumata sind offensichtlich. Oft kommt es spontan zu Hilfen durch Gespräche oder Therapien. Besonders in Kriegen und bei Naturkatastrophen betrifft es nicht den einen Menschen allein, sondern ebenso die Familie und die Nachbarn. Hier bewahrheitet sich das Sprichwort „Geteiltes Leid ist halbes Leid“.
  • Trauma Typ-2: Von diesem spricht man, wenn Menschen wiederholte und länger andauernde Bedrohungen, wie Gewalt durch nahestehende Menschen, erfahren müssen. Hierunter fallen die auch in unserer Gesellschaft häufigen familiären Gewalterfahrungen, Missbrauchssituationen, Entwertungen und Vernachlässigungen oder Überversorgungen von Kindern.

Die Typ-2-Traumata sind oft schwerwiegender, weniger offensichtlich, meist tabuisiert und mit Scham besetzt. Wir sehen vielfältige Folgen: Lernstörungen, seelische Dysbalancen, Persönlichkeitsstörungen, funktionelle Störungen der inneren Organe, psychosomatische Störungen und manifeste organische Erkrankungen. Die Ursache, die Traumatisierung, bleibt jedoch oft verborgen.

Von einer „Anpassungsstörung“ sprechen wir nach einem bedrängenden Erlebnis, das aber nach einigen Tagen bewältigt wird. Sie kann mit einer emotionalen Beeinträchtigung, verändertem sozialen Verhalten, Rückzug, verstärktem Grübeln, Sorge, Freudlosigkeit und einer depressiven Verstimmung einhergehen.

Eine „akute Belastungsreaktion“ (oder in der englischen Fachsprache: „acute stress disorder“ oder „Schock“) ist mehr. Es ist die Folge einer sehr belastenden und bedrohlichen Situation, für die wir keine Bewältigungsstrategie haben. Dies können Gewalterfahrungen, ein schwerer Unfall oder der plötzliche Tod eines geliebten Menschen sein.

Im Alten Testament wird davon berichtet, wie Lot und sein Weib aus Sodom und Gomorra fliehen, sich aber nicht umwenden dürfen. Lots Weib macht es dennoch und sieht das Grauen der Zerstörung der Städte, in denen niemand überlebt – und sie erstarrte zur Salzsäule. Im anglistischen Sprachgebrauch wird hier von „freeze“, vom Eingefrieren gesprochen. Diese Erstarrung geht oft mit einer völligen Bewegungslosigkeit einher, das Bewusstsein ist eingeengt, die Wahrnehmung ist gestört, der betreffende Mensch ist desorientiert, entwickelt mitunter dissoziative Symptome und erfasst die Realität nicht. Im weiteren Verlauf können Flashbacks auftreten, es besteht eine hohe Schreckhaftigkeit und Reizbarkeit.

Dieser Zustand kann mehrere Tage anhalten und sich lösen oder fortbestehen. Halten die Symptome 6-8 Monate an und ist mindestens eines der folgenden zwei Symptome nachweisbar, sprechen wir von einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS):

  1. Eine teilweise oder vollständige Unfähigkeit, sich an einige wichtige Aspekte des belastenden Erlebnisses zu erinnern
  2. Anhaltende Symptome einer erhöhten psychischen Sensitivität und Erregung, wobei mindestens zwei der folgenden Merkmale erfüllt sein müssen:
    1. Ein- und Durchschlafstörungen
    2. Erhöhte Schreckhaftigkeit
    3. Hypervigilanz
    4. Konzentrationsschwierigkeiten
    5. Reizbarkeit und Wutausbrüche

Sehr schwere Traumata (meist personalisierte Gewalt und/oder sexualisierte Gewalt) können wesentlich tiefere Folgen haben („komplexe posttraumatische Belastungsstörungen“- komplexe PTBS) mit z.T. gravierenden psychosomatischen Erkrankungen, der dauerhaften Veränderung und Regulation von Affekten und Impulsen, Suizidalität oder exzessivem Risikoverhalten. Erinnerungsstörungen, dissoziative Episoden und Depersonalisationserleben können auftreten. Die Selbstwahrnehmung ist nachhaltig gestört, Schuldgefühle sind möglich, ein sozialer Rückzug ist nicht selten, ebenso wie ein völliger Vertrauensverlust anderen Menschen gegenüber, Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung.

Letztlich kann es zu psychoseähnlichen Zuständen oder einem Borderline-Syndrom kommen.

Die Schwere des Erlebens ist dabei ein Faktor, ein anderer ist die vorbestehende Resilienz des betroffenen Menschen und sein Alter sowie seine Reife. Kleine Kinder, die Schweres erleben und dabei keine Hilfe ihrer wichtigsten Bezugspersonen haben, sind naturgemäß wesentlich verletzlicher, als erwachsene Menschen mit stabilen sozialen Bezügen und großer Lebenserfahrung.

Es versteht sich von selbst, dass die unterschiedlichen Grade von Traumafolgen auch unterschiedlicher Hilfe bedürfen. Neben dem Therapiebedarf kommt es in allen Fällen auch auf die Alltagssituation an. Denn eine Therapiesitzung z. B. erfolgt in der Regel einmal pro Woche für 50 Minuten. Der Rest des Tages und der Woche ist oft das größte Problem. Hier hat bei Kindern und Jugendlichen die Pädagogik große Aufgaben. Es geht um Stabilisierung, um Sicherheit, zuverlässige und wertschätzende Beziehungen, zeitliche Struktur, Rhythmen und Rituale u.v.m. Es wird deshalb von Traumapädagogik gesprochen, die sich aber auch nach Stadien differenzieren muss.

Im Schock und der akuten Belastungsstörung spricht man von Notfallpädagogik; ab der Spätphase der akuten Belastungsstörung und während des PTBS von Traumapädagogik; bei der komplexen PTBS, den psychoseähnlichen Zuständen und Borderline-Syndrom von der traumaorientierten Intensivpädagogik.

Das IINTP widmet sich vorrangig der Notfall- und Traumapädagogik. Eine eigene, vertiefte Weiterbildung in Notfallpädagogik ist im Entstehen. Eine Weiterbildung in traumaorientierter Intensivpädagogik könnte ggf. im Verlauf der nächsten Jahre entstehen.

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© Martin Straube