Grundzüge der Notfall- und Traumapädagogik

 

 

Über den spezifischen pädagogischen Interaktionen, die im Verlauf eines traumatischen Prozesses notwendig werden, stehen für uns zwei Begriffe, die in der Notfall- und Traumapädagogik von größter Wichtigkeit sind: Beziehung und Rhythmus. Diese, wie auch die weiteren Methoden, dienen alle dem Zweck, die durch den Schock entstandene Erstarrung zu lösen.

Ohne eine stabile Beziehung zum betroffenen Kind oder Jugendlichen ist eine therapeutische Wirkung von pädagogischen Interventionen nicht denkbar. Eine stabile Beziehung ist eine der wichtigsten Resilienzfaktoren, wenn sie in dem ganzen Vertrauensverlust Vertrauen ermöglicht, in dem Erleben der Unsicherheit Sicherheit vermittelt und Zuverlässigkeit gewährleistet, wo die Erfahrung des Traumatisierten geprägt ist von der Unzuverlässigkeit von Menschen, Natur und der eigenen Reaktion im Moment des Traumas. Wo der betreffende Mensch den Glauben an die eigene Stärke und die eigenen Ressourcen, an den Sinn des eigenen Daseins verloren hat, kann dieser Glaube nur entstehen, wenn ein Gegenüber an ihn glaubt. Dabei ist eine stabile Beziehung ein Prozess, der immer zwei Gefahren ausgesetzt ist: Die/Der Pädagog*in kann sich zu stark binden und sich für alles und jedes verantwortlich fühlen; dadurch machen wir das Kind oder den Jugendlichen noch stärker zum Opfer, machen ihn noch unselbständiger, als er es ohnehin schon ist und machen ihn abhängig. Die andere Gefahr ist, dass wir uns zu stark abgrenzen, vielleicht aus Antipathie, vielleicht, weil wir uns als Helfer überfordert fühlen und uns vor einer Sekundärtraumatisierung schützen müssen, vielleicht, weil wir uns hilflos fühlen oder ein zu „dickes Fell“ haben und die Not des Anderen nicht ertragen. Zwischen diesen zwei Gefahren für eine hilfreiche Beziehung pendelt der/die Pädagog*in und der/die Therapeut*in immer hin und her. Es tut uns gut, wenn wir helfen können und so bemerken wir den Punkt nicht, von wann ab wir das Kind oder den Jugendlichen noch unselbständiger machen und somit eine Traumaverstärkung bewirken. Andererseits kommen wir an den Punkt, wo wir nicht bereit sind, uns zum hundertsten Mal dieselben Worte anzuhören, mit denselben Sorgen und mit demselben Verhalten konfrontiert zu sein, weil wir den Fortschritt nicht sehen können und abstumpfen. Wenn dadurch das Kind oder der Jugendliche das Vertrauen zu uns verliert, das er anfangs in uns gesetzt hat, fügen wir eine weitere Verletzung zu den Verletzungen hinzu, die ihn ohnehin schon plagen und verstärken ebenfalls das Trauma. Das erklärt, warum es in einer Weiterbildung zur Notfall- und Traumapädagogik auch viel um Selbsterfahrung geht und Supervision Bestandteil der Weiterbildung ist.

Hier sei angemerkt, dass bereits in der ersten Waldorfschule 1919 veranlasst wurde, dass in den ersten acht Schuljahren, der ersten und noch sehr sensiblen Zeit des Schulkindesalters, ein Klassenlehrer die kontinuierliche Bezugsperson darstellte, die Kinder nicht sitzenbleiben oder die Klasse überspringen konnten, sodass auch unter den Kindern stabile Beziehungen entstehen konnten.

Der Rhythmus und das System der Rhythmen untereinander, das sich um das 9./10. Lebensjahr herausbildet, ist im Stress und besonders im toxischen Stress das vulnerabelste somatische und psychische System, und das, welches die entscheidende Verbindung zwischen leiblichen und seelischen Vorgängen bildet. Der Tagesrhythmus, der maßgeblich durch das Cortisolprofil bestimmt wird mit einer hohen Zacke um das Aufwachen und niedrige Werte in der Nacht bestimmt wird, flacht ab mit niedrigen Werten morgens und erhöhten in der Nacht. Damit geht die Zeitgestalt des Tages verloren, wodurch die körperlichen Organrhythmen schwinden, aber auch das Seelenleben orientierungslos wird. Ferner zerbricht der basic-rest-activity-cyclus (BRAC), die ca. 90-Minuten-Periodik, die den Tag durchzieht und Hauptbestandteil der Schlafarchitektur ist. Weiterhin verflacht die Rhythmuskompetenz der Herzaktionen, die mit der Atmung gekoppelt ist, die sogenannte „Herzratenvariabilität“ und entkoppelt sich von anderen Rhythmen (z.B. Atmung). Aus Rhythmus wird Takt, was als Zeichen großer Gefahr für die Gesundheit angesehen wird. Eine Erholung und eine Mobilisierung von gesunden Ressourcen ist ohne ein Wiederherstellen der rhythmischen Prozesse unmöglich. Ebenso, wie in der gesunden kindliche Entwicklung die Rhythmen sich ausbilden, können wir diese gestörten Rhythmen durch Wahrnehmen, Nachahmung, Adaptation und Stabilisierung auch wiederherstellen, weswegen rhythmische Spiele, Tanz, Eurythmie, Körperpercussion, rhythmische Einreibungen, Musik, Tagesstruktur, Wechsel von Aktivität und Ruhe zu den zentralen Aufgaben der Notfall- und Traumapädagogik zählen.

Auch hier nutzen wir die Erfahrungen der Waldorfpädagogik, in der von Beginn an die rhythmischen Übungen essentieller Bestandteil und ein Alleinstellungsmerkmal sind. Jeder Unterricht hat hier einen rhythmischen Teil, die Eurythmie wurde Unterrichtsfach und die Rezitation, der Gesang, die Unterrichtsrituale, die Struktur des Epochenunterrichtes u.v.a.m. sind Kernelemente der Waldorfpädagogik.

In den Einsätzen der Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners in Kriegs- und Krisengebieten spielen diese Beachtung, die Pflege, das Erüben der Rhythmen und Rituale daher eine dominante Rolle. Die daraus resultierenden Erfahrungen bringen die Mitarbeiter des IINTP in die Weiterbildung und Veranstaltungen ein. Diese und die weiteren Methoden werden in dem Buch „Trümmer und Traumata: Anthroposophische Grundlagen notfallpädagogischer Einsätze“ von Bernd Ruf und in seinen weiteren Publikationen beschrieben.

Bewegungsübungen in Sport, Spiel, in der Eurythmie, der Feinmotorik, den Körperpercussionsübungen, der Gleichgewichtsübungen und Tänzen gehören ebenso zu dem Repertoire der oben erwähnten Einsätze. Denn alles, was in Bewegung bringt, trägt dazu bei, die Erstarrung zu lösen. Dazu gehört auch die innere Bewegung, z. B. beim Erzählen von Geschichten, auch Beobachtungsübungen in der Natur etc. Viele dieser Bewegungsübungen sind zugleich rhythmisch und erfüllen damit einen doppelten Sinn.

Diese Bewegungsübungen schärfen den Bewegungs- und Gleichgewichtssinn. So sind es aber auch alle anderen Sinne, die in der Notfall- und Traumatherapie gepflegt werden können. Über die Sinne vermittelt uns unser Leib die Wahrnehmung der Welt, die unsere Seele bereichert. Denn diese Wahrnehmung ist gestört und das seelische Innenleben eines traumatisierten Menschen ist beherrscht von dem Grauen, das die Welt ihm geboten hat. Den Leib, der im Schock unter dem maximalen Stress weder fliehen, noch kämpfen konnte, erlebt der Traumatisierte als etwas, was ihn im Stich gelassen hat. Diesen Leib als Instrument wieder wert zu schätzen, gelingt neben anderen Übungen über die differenzierte Sinnespflege. Neben das beherrschende Traumathema in den Gefühlen und Gedanken, und deren Folgen von Wut, Scham, Angst, Hoffnungslosigkeit, Unsicherheit, Flashbacks etc., die die Seele plagen, werden Wahrnehmungen gestellt und reflektiert, die mit der Zeit ein Gegengewicht zu dem schlimmen Erlebnis aufbauen.

Einen weiteren Schwerpunkt in der Traumapädagogik bildet aus unserer Sicht die Kreativität. Durch Shakespeares Macbeth ist der Ausdruck des „sprachlosen Entsetzens“ sprichwörtlich geworden. Das Erlebte kann der Traumatisierte oft nicht in Worte kleiden, wohl aber kann er vieles davon malen, im Spiel mit den Puppen reinszenieren und dergleichen. Kreative Methoden bieten ein Ventil für belastende Erfahrungen. Das Erlernen kreativer Methoden bietet aber auch die Möglichkeit, sich Schönes zu erschaffen, als homo ludens, als der „spielende Mensch“ oder homo aestheticus kann er die Erfahrung machen, dass er Individuelles leisten, Fortschritte erzielen, sich eine Welt erschaffen und eine schöpferische, in die Zukunft führende Quelle ins Fließen bringen kann. In der Phantasie können wir Dinge vollbringen, die uns im Moment des Traumas zu unserem Schutz nicht möglich waren. Diese Phantasie wird durch kreative Prozesse aktiviert und ist eine Quelle neuer Ressourcen. Kunst sehen wir nicht als wertfreien Zeitvertreib, sondern der kreative Prozess ist ein in der Seele auftretender Spiegel einer menschenkonstituierenden Kraft. Denn auch Gesundheit und Krankheit sind keine Zustände, sondern kontinuierliche kreative Prozesse, die um ein Gleichgewicht von Krankheitstendenzen und Gesundheitsressourcen balancieren. Ferner besteht die Erfahrung, dass künstlerische Methoden auch Verarbeitungsmethoden schrecklicher Erlebnisse sind.

Diese Phantasie ist auch Teil der Methode des „sicheren Ortes“. Denn damit ist nicht nur ein sicheres und möglichst ansprechendes Gebäude gemeint, auch der Leib als Wohnort der Seele, der der Pflege bedarf, ist gemeint und die Seele selber, in der wir uns als Persönlichkeit erfahren, ist ein solcher Ort, der gesichert gehört. Das geschieht nicht nur durch Kreativität, sondern auch durch das Erzählen von Geschichten, besonders, wenn sie starke und archetypische Bilder enthalten, die dann gemalt, oder reinszeniert werden im gemeinsamen Spiel etc., so dass sie Orientierung bieten können. Denn Kinder, die in ihrer Phantasie in einer sicheren Burg leben, schön, wie die schönste Prinzessin, stark, wie Pipi Langstrumpf sind und zaubern können, wie eine Fee, kehren aus ihrer Phantasiewelt gestärkt in die Realität zurück. Nach einem Trauma sind diese inneren Bilder erloschen. Und sie wiederaufzubauen, ist Aufgabe der Notfall- und Traumapädagogik.

Das alles gelingt nur, wenn Kinder und Jugendliche an den Methoden Freude erleben können. Denn nur Freude an den angebotenen Methoden weckt die Motivation mitzumachen. Gelingt es hier, Motivation zu erzeugen, so ist ein erster Schritt getan für die Motivation, die hinter aller Entwicklung steht, und ohne die es keinen Weg aus dem Tal herausgibt. Motivation ist die besondere Gabe von Kindern. Sie sind bereit, auch wenn sie schon hundertmal hingefallen sind, trotzdem laufen lernen zu wollen. Sie ist das große „Ja“ zum Leben, sie ist die Kraft der Inkarnation und des Mutes, das Leben zu ergreifen. Nach einem Trauma ist diese Motivation mitunter völlig erloschen, was möglicherweise die gravierendste Folge eines Traumas ist. Als Indikator dafür, dass sie wiederkehrt, egal wie weit der Weg ist, bis es sich um eine stabile Größe handelt, dient die Freude, die ein Kind zeigt, sei es durch den Blick, das Lächeln oder Lachen, den zunehmenden Bewegungsdrang, dem Lösen von Verspannungen oder durch eigene Ideen, was noch getan werden könnte. Die Erstarrung des Schocks beginnt sich ohne diese aufkeimende Freude im Spiel nicht zu lösen. Noch deutlichere Zeichen sehen wir dort, wo Selbstwirksamkeit entsteht, die mit allen Mitteln der Assistenz und des Empowerments erworben werden soll.

Dazu gehört unabdingbar die Haltung des/der Notfall- und Traumapädagog*in. Es ist die grundsätzliche Haltung der Wertschätzung, die gelebte und vom Kind erfahrbare Haltung: „Nicht du bist verkehrt, sondern das, was du erlebt hast war verkehrt“. Es ist auch die „Haltung des guten Grundes“, was besagt, dass, um das Trauma zu überleben, ein Kind oder Jugendlicher sich aversive Verhaltensmuster zulegt, die für die Pädagogin oder den Pädagogen, wie auch für die soziale Gruppe belastend sind. Dieses Verhalten ist oft Teil einer Heilung, weil das Kind oder der Jugendliche damit Dinge tut, die in der traumatischen Situation zu tun sinnvoll gewesen wäre, denn die Symptome von Heute wären Gestern eine Hilfe gewesen. Insofern sind solche Handlungsweisen zu würdigen und nicht zu sanktionieren, und, wenn es gelingt, sie in sozial verträglichem Kontext kreativ ausleben zu lassen.

Dies ist ein kurzer Einblick in die Essentials der Notfall- und Traumapädagogik und keine vollständige Beschreibung der Methoden, die wir in unseren Weiterbildungen und Seminaren lehren. Um mehr zu erfahren, müssten unsere Kurse besucht werden.

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© Martin Straube