Die Corona-Erschöpfung

Es gibt einen Aspekt, der in den letzten Wochen an verschiedenen Stellen, z.B. in „Die Zeit“ (4/21) von Christine Lemke-Matwey und in der „Süddeutschen Zeitung“ von Marie Schmidt am 13.01.2021 beschrieben wurde oder im Podcast von Caroline Schuch im RBB.

Es gibt nicht nur die Erschöpfung durch Homeoffice mit dem Genervtsein durch Kinder im Homeschooling, durch Perspektivlosigkeit der Situation (denn die Impfung ist keine rechte Perspektive – ein Gewitter schwindet ja auch nicht, wenn man einen Blitzableiter installiert), Ängste und Einsamkeit.

Es gibt auch eine Erschöpfung durch verminderte Wahrnehmungen, Anregungen, Emotionen und Nebensächlichkeiten. „Vieles ist zu ersetzen, der Blick über die Schulter in den Zuschauerraum aber nicht“ heißt es in der SZ. Gemeint ist, dass wir nicht nur in das Kino gehen, um einen bestimmten Film anzuschauen. Wir wollen einen schönen Abend mit Popcorn und Unterhaltung haben. Aber das Knistern des Bonbonpapiers des Kinobesuchers hinter uns, die ritualisierte Spöttelei über die Werbung vor dem Film, die Feststellung in einem Dokumentarfilm und die Beruhigung, dass das Durchschnittsalters der Besucherhöher ist, als das eigene, das Aufschnappen von Gesprächsfetzen der Leute vor einem, die die Erinnerung an Leute weckt, die man noch nie mochte, das Sehen, wie an spannenden Stellen die Frau vor einem im Kinosessel tiefer und tiefer rutsch, das Einnicken des Herren daneben bei langatmigeren Stellen. Alles das sind Reize, die unseren emotionalen Haushalt auf Trapp halten. Auch beim Einkaufsbummel in der Einkaufsstraße, bei dem wir bei einem die merkwürdige Kleidung, das zu starke Parfüm bei einer anderen Person, die verliebten Blicke eines Pärchens, die Melancholie und Genervtheit mancher Eltern wahrnehmen. Alles erzeugt Phantasien, Erinnerungen, Mitgefühl, innere Abwehr, Ärger über den, der uns anrempelt, Schmunzeln über die eine oder andere Situationskomik. Gewiss ist alles nicht so wichtig im Sinne des Bruttosozialproduktes. Aber es haucht unserer Seele Atem ein. Je bewusster uns dieses Panoptikum wird, desto anregender ist es, aber auch wenn wir es unbewusst erleben, regt es an, auch die Wut, auch der Ärger, auch die Scham, die wir empfinden, wenn wir zum wiederholten Mal die falsche PIN-Nummer in das EC-Kartenlesegerät tippen und die Schlange hinter uns immer länger wird.

Das Glück unseres Lebens hängt zu einem nicht genau zu quantifizierenden Maß von all diesen Eindrücken ab, besonders, wenn wir es wach erleben und mit Interesse, Humor und/oder validierender Achtsamkeit aufnehmen und aktiv damit umgehen, z.B. indem wir der Verkäuferin an der Kasse ein Lächeln in das Gesicht zaubern.

Auf dem Weg zur Arbeit im ÖPNV, im Konzert, in den Sitzungen, im Kaffee oder Restaurant erleben wir es oder wenn im Berufsverkehr die Menschen auf den dafür zu schmal konstruierten Treppen vom Bahnsteig heruntergehen in unterschiedlichem Tempo, der eine mehr hüpfend, der andere mehr schlurfend, während der nächste sich energisch die Hacken abläuft. Es ist doch ein köstlicher Anblick!

Was aber passiert im Homeoffice, was im gähnend leeren Zug, was, wenn wir das große Einkaufcenter betreten, die allermeisten Läden geschlossen sind und die wenigen Gäste schnurstracks in den einzig geöffneten Lebensmittelladen gehen, um dort nur so kurz wie möglich zu verweilen? Netflix ersetzt keinen Kinobesuch, die Ereignislosigkeit der Routinen, die sich im allerengsten Kreise drehen, lassen die Vielfalt der Anregungen vermissen, die wenigen sozialen Interaktionen mit den immer gleichen Menschen (wenn ich jetzt das sage, wird sie jenes antworten, also sage ich es lieber gar nicht) regen nicht mehr an, es gibt keine Überraschungen mehr. Die Seele verarmt. Das emotionale Karussell steht still. Und das erschöpft. Wenn die Anregung der Seele fehlt, gehen meistens der Humor, die gute Stimmung und die guten Sitten als erstes verloren. Unsere Eltern, Groß- oder Urgroßeltern hatten nach dem Krieg mit Hunger, Heimatverlust, den kaputten Städten und der Trauer um tote Angehörige diese Erschöpfung nicht. Und sie wurden aktiv im Wiederaufbau. Uns erschöpft das Nichts. Unsere Vorfahren, wenn sie denn erschöpft waren, dann durch das Zuviel.

Auch wenn der Takt des Alltages verloren geht, der uns durch die Woche getragen hat, werden unsere Rhythmen nicht mehr angeregt, was Schlafstörungen, Müdigkeit und Erschöpfung bewirkt.

Es engt die Aufmerksamkeit ein, das Spektrum der Wahrnehmung verkleinert sich, die Frustrationstoleranz schwächt sich ab. Da spielt der Computer zuhause eine nicht unerhebliche Rolle. Gewiss, Kinder, die aus welchen Gründen auch immer, eine eingeschränkte Aufmerksamkeit haben, fühlen sich gestört durch die Unruhe im Klassenzimmer und kommen im Unterricht nicht mehr mit. Aber eben die Fülle der Eindrücke und Interaktionen in der Schule, auf dem Weg dahin und zurück, der Unterricht, auf den man sich nicht vorbereitet hat bei dem strengen Lehrer, die Pausen mit der mühevollen Etikette cool sein zu müssen, den einen nicht, den anderen umso häufiger ansehen zu müssen, um noch dazu zu gehören, den nicht so einfachen Interaktionen – alles das sind Übungsfelder, alles das erzeugt Emotionen, mit denen wir lernen umzugehen. Alles das passiert im Homeschooling nicht mehr. Der Blick auf den Bildschirm ist eng, der in die Welt aber ist weit.

Corona verschärft eine Tendenz, die es zuvor schon gab. Durch das Schwinden emotionaler Herausforderungen schwindet Resilienz. Und dadurch wird man angreifbarer und was man sonst vielleicht hätte verarbeiten können, wirkt nun traumatisierend.

Die vielen Eindrücke, Wahrnehmungen und Emotionen stoßen etwas an, was wir Leben nennen. Gewiss, es kann zu viel werden und erschöpft dann auch. Aber im Lockdown ist es bei vielen Menschen, insbesondere bei Kindern zu wenig. Und das Leben erlahmt.

Diese Schwächung der Lebenskräfte für sich sind noch kein Trauma. Aber wenn dann noch häusliche Gewalt oder Vernachlässigung hinzukommt, kann es rascher zu einer Traumatisierung kommen.