Was Corona ans Tageslicht bringt

von 20.04.2020Nachrichten

Wer hätte sich vor wenigen Monaten vorstellen können, was in diesen Wochen alles geschehen ist? Bislang war unsere Politik so ausgerichtet, dass das Hauptziel das Wirtschaftswachstum auf Kosten der ärmeren Bevölkerung war, jetzt ist das Hauptziel möglichst jedes Leben zu retten, auch das der älteren Menschen, die nicht mehr zum Wirtschaftswachstum beitragen können, auf Kosten der Wirtschaft, die darnieder liegt. Diese scheinbar humanitäre Kehrtwende hat allerdings einen Schönheitsfehler, denn es geht nur um das Überleben der eigenen Bevölkerung und nicht um das der Flüchtlinge, die im Mittelmeer jetzt wieder mehr ertrinken und in den menschenunwürdigen Lagern der Coronapandemie hilflos ausgeliefert sind.

Zugleich zerbricht die europäische Union in Staaten, die die Demokratie aushebeln und diejenigen, die die Bürgerrechte möglicherweise nur kurzfristig aussetzen.

Dennoch ist eine Wende abzusehen, aber nicht, in welche Richtung es gehen wird. Geht es in Richtung größerer Fürsorge oder in Richtung von mehr Überwachung?

Werden die Menschen aus dem Niedriglohnsektor (Verkäuferinnen, Krankenschwestern), die jetzt das Leben aufrecht erhalten haben und derer, die wir jetzt am meisten vermissen (Kindergärtnerinnen, Pädagoginnen und Pädagogen) in Zukunft mehr wertgeschätzt? Werden die Frauen, die es jetzt in Überzahl sind, endlich gleichgestellt? Interessant ist in dem Kontext, dass, wenn man mitten in der Krise den vielen Statistiken bereits vertrauen kann, dass die Länder, die von Frauen geführt werden (Island, Norwegen, Taiwan, Finnland und Deutschland) die Krise bislang am sanftesten gemanagt haben. Xi Jinping in China hat es lange versucht, das Problem zu verheimlichen, Orban lässt ein Ermächtigungsgesetz beschließen, Trump in den USA hat das Virus als Erfindung der Demokraten deklariert, in Frankreich hat Präsident Macron am 16. März noch demonstrativ das Theater besucht, um zu zeigen, dass alles nicht so schlimm ist, Netanjahu in Israel hat über Nacht die Gerichte und das Recht stillgelegt und Bolsonaro in Brasilien erklärte, dass Brasilianer resistent gegen das Virus seien. Alles Männer. Corona stellt also eine Genderfrage!

Da fehlt doch etwas, was dieses Auseinanderfallen zusammenhalten könnte!

Was jetzt durch den Wirbel sichtbar wird, ist, dass alles, was so vordergründig wichtig war, plötzlich in der Wertigkeit überholt wird von etwas ganz Anderem, viel Basalerem, das als Grundrauschen hinter den vordergründigen Dingen verborgen schien. Sind wir noch in der Lage, einen guten Alltag in der Familie zu gestalten? Können wir kreativ mit Zeit umgehen, können wir Zeit sinnvoll strukturieren, können wir das, was wir die „Magie des Alltages“ nennen, diese Grundströmung allen Lebens mit ihren Ritualen, Rhythmen, ihren Spielen, ihrem Lachen und ihrem Ernst, ihren Regeln, Geschichten, ihrer Nahrung für Körper, Seele und Geist noch handhaben? Dieses Leben, in dem wir Frustrationstoleranz, Konfliktbewältigung, Bindung, Wertschätzung, Kreativität, Freude und Trauer erlernen, wird plötzlich auf die Probe gestellt. Der Kindergarten und die Schule waren bis Corona oft mehr als die Familie der Ort, wo soziales Miteinander gelernt wurde. Plötzlich müssen es die Familien wieder leisten, die ihre Kinder oft schon nach wenigen Wochen oder Monaten in den Hort gegeben haben, dann in den Ganztagskindergarten und in die Ganztagsschule. In Wuhan schnellten nach dem harten Lockdown die Scheidungsraten in die Höhe, auch bei uns werden Kinder vor dem Fernseher oder dem Internet von ihren Eltern alleine gelassen. Ein Anrufer erzählte von dem häuslichen Konflikt, dass der Sohn im Internet nach köstlichen Malzeiten gegoogelt hat und jeden Tag einen riesigen Streit vom Zaun bricht, wenn dieses Essen nicht am selben Tag auf den Tisch kommt, als wäre es per Copy and Paste vom Netz auf den Tisch zu beamen. Je mehr eine Familie die Magie des Alltages verlernt, desto mehr dissoziieren virtuelle und analoge Welten. Johannes-Wilhelm Rörig ist Beauftragter der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs und sieht mehr körperliche und sexuelle Gewalt an Kindern, auch bei uns wird eine erhöhte Scheidungsrate erwartet, aber auch ein Babyboom in ca. neun Monaten. Corona legt offen, dass nicht die Vollbeschäftigung und das Wirtschaftswachstum unsere Gesellschaft zusammenhält. Sondern die sozialen Beziehungen, Rhythmen, Rituale, Fürsorge, Familie, ein guter Alltag mit allen Aufs und Abs. (Auch dieses private, intime Leben innerhalb der Familien wurde mehr von Frauen, als von Männern gestaltet…)

Plötzlich werden Dinge wichtig, die das Zentrum der Traumapädagogik bilden. Wir brauchen diese Weiterbildung jetzt mehr denn je.

Daher wollen wir versuchen, sie so rasch, als möglich wieder ins Laufen zu bringen!