Bericht aus den Philippinen, aus Tacloban und Cotabato

Martin Straube

 

Anfang Dezember 2016 fuhr wieder eine Gruppe auf die Philippinen. Ein ungewöhnliches Land. Es besteht aus über 7.000 Inseln, die sich auf einer Fläche von 1.850 x 1.122km erstrecken. Welch fremdes Gefühl, sind wir es doch aus Deutschland und den meisten Ländern der Welt gewohnt, dass Länder in sich geschlossene Gebiete umfassen, die vielleicht durch Flüsse oder Gebirge unterbrochen sind. Aber lauter Inseln – gewiss, man kennt es auch von Indonesien, auch in Deutschland gibt es die Inseln, die dem Land vorgelagert sind. Aber so zerklüftet, zerteilt und in eine solche landschaftliche Vielheit atomisiert, das ist eine gänzlich andere Erfahrung.

Wir landeten mit dem Langstreckenflieger in Manila, der Hauptstadt, die auf der größten Insel (Luzon) liegt, eine Megametropole mit einer imposanten Hochhaus-Skyline, aber vom Flieger aus sahen wir viele kleinteilige Slums mit winzigen Wellblechhütten zwischen groß und großzügig angelegten Wohnanlagen. Dann ging es weiter mit dem Flieger auf Leythe, der Insel, auf der Tacloban liegt, die Stadt, die 2013 von dem Sturm Hayan (dem bis dahin stärksten Sturm, der jemals gemessen wurde mit 312 km/h) und der darauffolgenden 12 Meter hohen Flutwelle zu 85% zerstört wurde mit einer bis heute unsicheren Zahl von Toten – Manche sprechen von 8.000, andere von mehr als 10.000 Toten. Die Stadt bestand – und besteht heute wieder – aus vielen Wellblechhütten, die vom Sturm zerstört und der Flut weggespült wurden. Da die Stadt zum größten Teil sich nur flach über den Meeresboden erhebt, war sie eine leichte Beute für Sturm und Wellen.

Dort hat die Abteilung „Notfallpädagogik“ der „Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners“ ein „Child friendly space“ für die Kinder errichtet, die durch den Sturm (den die Einheimischen etwas liebevoller „Jolanda“ nennen) zu Schaden gekommen sind, Geschwister oder Elternteile verloren oder unter den schrecklichen Erlebnissen der Zerstörung gelitten haben. Dort wurde Notfallpädagogik gemacht und von angelernten Pädagogen täglich mit den Kindern praktiziert, die durch die „Freunde“ finanziert wurden.

Nur: in Tacloban ist wieder „Normalität“ eingekehrt, die Häuser stehen wieder, die Wellblechhütten auch, das Leben geht seinen gewohnten Gang. „Notfall“ besteht nicht mehr, für die „Freunde“ ist die Arbeit beendet. Es ist viel geleistet, den Kindern geht es gut. Das Kind, das die schwerste Erschütterung erfahren hat, das „Wunder von St. José“, ein Kind, das erst nach mehr als zwei Tagen nach dem Sturm, bis zum Hals im Schlamm steckend gefunden wurde und dessen Eltern nicht überlebten, hat eine gute Entwicklung genommen. Wir kennen es aus vorherigen Einsätzen. Es schrie mitunter die ganze Zeit, lies niemanden an sich heran, sprach nicht, interagierte nicht. Jetzt ist es zwar zurückhaltend, ist aber mit strahlenden Augen bei den Spielen und Aktionen dabei – und es spricht seit wenigen Monaten wieder!

Es ist schwer den Menschen, die von uns abhängig waren, zu sagen, dass nun Schluss ist. Oft wurde es angekündigt, ein Mitarbeiter wurde eingestellt, um den Übergang zu organisieren. Aber es geschah nichts dergleichen, ein Übergang in die Selbstständigkeit hat nicht stattgefunden. Das ist dramatisch. Es war angekündigt, es war allen klar, dass von Notfallpädagogik nicht mehr die Rede sein kann. Wäre aus dem Ganzen eine Initiative für einen Waldorfkindergarten oder eine Waldorfschule erwachsen, hätten die Freunde der Erziehungskunst es weiter fördern können. Aber so mussten die Freunde sich zurückziehen. Für die Kinder traurig, für die Erwachsenen auch. Wir hoffen, dass hier auf kleiner Flamme weiterhin eine Platz des Schutzes, der Entspannung, der Freude und der Positivität sein wird, was die meist sehr armen Familien, die rigiden Schulen, die strukturarme Region nicht bieten können. Aber das bleibt abzuwarten.

Aber so war der Abschied auch traurig. Durch die Stadt zu fahren, besonders von den Hauptstraßen abzubiegen in die Armenviertel, war erschütternd. Der nächste Sturm und die nächste Flutwelle werden wieder alles zerstören, denn was neu entstand, ähnelt mehr Kartenhäusern, als sicheren Unterkünften. Es hat sich auch hier nichts verändert.

Danach flogen wir auf eine andere Insel, auf Mindanao, der zweitgrößten Insel des Inselreiches. Es ist eine problematische Insel. Denn so zerklüftet der Staat ist durch die über 7.000 Inseln (nur ein Drittel der Inseln ist bewohnt), so sind es auch die Ethnien und die Religionen. Tacloban war katholisch. Auf Mindanao leben ebenso viele Moslems, aber auch verschiedene Volksgruppen, die sich seit Jahrzehnten bekämpfen.

Hier hat eine islamistische Terrorgruppe um Abu Sayyaf eine starke Basis, die dem IS die Treue geschworen hat. Immer wieder kommt es auch zu Entführungen von Touristen, einige werden ermordet – das steht dann bei uns in den Zeitungen. Die häufigen Kämpfe, die hier stattfinden, nicht. Überall ist Militär auf den Straßen, viele Checkpoints sind errichtet, überall Zäune, Wachen. Das Leben aber geht weiter, wirkt heiter und geschäftig. Die Stadt Cotabato, in der wir sind, wirkt arm. Schöne Häuser sieht man nicht, aber wir haben auch wenig von der Stadt zu sehen bekommen, wir dürfen auch nicht alleine durch die Stadt schlendern, leben in einem Hotel hinter hohen Mauern, haben keine Fenster in den Zimmern und sind so ziemlich isoliert. Unser Weg zur Universität ist kurz. Es bietet sich ein Bild, das man aus vielen Städten kennt: Viel Schmutz, viel Staub, graue halbfertige Häuser mit herausragenden Moniereisenstangen, kleine Läden mit geringem Angebot, aber dazwischen auch Supermärkte. Die Straßen sind voll. Viele Tuktuk´s, die meisten vor Rost bereits löchrig, viele Fahrradrikschas, auf Fahrrädern, die man woanders längst ausgemustert hätte, oft noch von Greisen gefahren, dazwischen moderne dicke und breite Autos mit getönten Scheiben, die Busse sind Kleinbusse, die bei uns für max. 9 Personen zugelassen sind, die aber nicht selten völlig überladen sind – manchmal sitzen noch viele Menschen auf deren Dächern. Es ist laut, staubig quirrlig. Überall dazwischen in der Hitze stehen Weihnachtsmänner und Christbäume. Die Menschen dazwischen, außer den ganz armen, beeindruckend sauber und hygienisch, auch wenn sie durch Müllberge laufen.

Wir arbeiteten in der Universität der Stadt. Sie ist ein Teil einer riesigen Bildungseinrichtung, die Kindergärten, Schulen aller Typen und eine Universität auf einem großen bewachten und umzäunten Gelände beherbergt. Die Einrichtung ist katholisch, es ist eine große Kirche auf dem Gelände, man findet Marienstatuen, Heiligenbilder und Bilder des Gründers, eines Bischofs. Aber es sind alle Volksgruppen und alle Religionen vertreten. So auch eine große Gruppe von Muslimen, viele Frauen laufen teils verschleiert über das Gelände. Unser letzter Tag war ein Freitag, an dem die Moslems mittags ihr Freitagsgebet abhalten müssen. Direkt neben der Kirche, unweit der großen Marienstatue predigte der Imam mit Mikrophon weithin hörbar vor der Gruppe der männlichen Muslime. Viele gemalte Plakate auf den Wegen fordern zu Respekt auf. Das scheint hier zu gelingen. Außerhalb der Mauern scheint es anders zu sein. Eine Frau erzählte mir lachend, dass die Nachrichten nur von Mord und Kämpfen berichten… Eine Frau, mit der wir hier zusammenarbeiten, hat mehrere Geschwister verloren, die in der Oppositionsbewegung gegen Marcos gekämpft haben. Sie würde auch in unserem Seminar nicht über diese Situationen berichten, weiß sie doch nicht, ob unter den Teilnehmern ehemalige Marcosanhänger sind. Die Wunden von damals sind noch offen.

An diese Universität wurden wir eingeladen, um das zu machen, wofür wir das iintp auch gegründet haben: Ein Traumaseminar. Eine Kinderstiftung lud ein, es nahmen Menschen teil, die aus Waldorfinstitutionen kommen, es sind NGO-Mitarbeiter darunter, die Waldorfzusammenhänge nicht kennen, es sind Regierungsberater darunter und Pädagogen, Journalisten und ein Teilnehmer, ein Finne, der für nonviolent peaceforce an den Frontlinien der Kriege überall auf der Welt darauf achtet, dass die Rechte von Kindern eingehalten werden, bzw. deren Verletzungen an die UN u.a. weitergeleitet werden.

Eine gemischte Gruppe von 50 Menschen, die unterschiedlicher kaum sein kann, Moslems, Christen, Atheisten, Anthroposophen, Büroangestellte und Therapeuten, die Hardcoreerfahrungen machen. Denen sollten wir erzählen und zeigen, was Notfall- und Traumapädagogik ist. Wir mussten uns treu bleiben mit unseren Methoden und dennoch eine Sprache finden, die allen gerecht wird. Es kamen Fragen auf, die hätten für viele Wochen gereicht, aber wir hatten 2 ½ Tage. Eigentlich weniger, weil viel Zeit durch die Übersetzung verloren geht. Zum Glück kennen wir inzwischen solche Situationen, kommen nicht ohne solche Erfahrungen hierher und lassen uns dadurch nicht mehr stressen. Ich glaube, wir haben es gut gemeistert.

Wir boten Workshops an. Zwei, ein Kindergartenworkshop und ein Workshop einer Maltherapeutin wurden lokal organisiert. Minka und Anna boten einen mit Bewegungs- und Rhythmusspielen und Ulrike einen für Eurythmie an. Die Vorträge hielt ich und Lukas war der Übersetzer, Organisator, Vermittler, Conférencier und „haed of mission“.

Natürlich lief alles anders, als geplant. Auch das kennen wir. Jetzt sollte, anders, als verabredet, doch an unserem Ankunftstag ein erster Vortrag gehalten werden. Es waren eineinhalb Stunden vorgesehen. Dann fiel der Strom aus, an die Nutzung des Beamers war nicht zu denken. Dann fing es später an, aber nicht mit dem Vortrag, sondern mit einer musikalischen Übungseinheit, schließlich mit zweien, es waren technische Ansagen nötig usw. Am Ende war es eine halbe Stunde. Es blieb nur Zeit uns vorzustellen und eine kleine Einführung zu improvisieren.

Am nächsten Tag ging es um eine vertiefte Einführung in die Psychotraumatologie und das menschenkundliche Verständnis. Was hilft? Auch hier eine kurze Einführung von Beziehung, Rhythmus, Bewegung, Kreativität, Freude und Selbstwirksamkeit, später noch einmal mit Bildern aus der Arbeit mit den Kindern. In Arbeitsgruppen wurden Fragen gesammelt. Es kam viel, mehr, als wir bewältigen konnten, aber am nächsten Tag konnten wir alles ansprechen. Zuletzt kamen die Methoden im Hinblick auf die Symptomatik der Kinder zur Sprache, einiges war gut mit den Arbeitsgruppen zu verknüpfen und dort konnte einiges aufgegriffen werden. So wurde es doch recht rund.

Einige Fragen gingen weit über unsere Erfahrungen hinaus. Eine Mitarbeiterin arbeitet mit Kindern, die von einer ortsansässigen Mafia missbraucht worden sind. Sie saßen vor einer Kamera, der man sich im Internet zuschalten konnte und der Anrufer konnte sagen, was die Mafiosi mit den Kindern machen sollen…. Der Anrufer hat nichts selber getan, der Mafiosi auch „nur“, was die Anrufer verlangten. Diese Kinder wohnen im Heim, haben Kontaktverbot, auch zu ihren Eltern, werden nicht unterrichtet, sprechen nur die Sprache der Einheimischen, die unsere Teilnehmerin, die mit ihnen Kunsttherapie machen soll, nicht versteht. Was soll man ihr raten? Alles, was einem dazu einfällt, wird ein Tropfen auf den heißen Stein sein.

Wir haben noch viel zu tun!

Martin Straube