Einsatz in Gaza
Wenn man nach Gaza reist, betritt man eine andere Welt. Erst einmal muss man in das Land hereinkommen. Das bedeutet, erst einmal von der israelischen Grenzbehörde kontrolliert zu werden, was bei den verschiedenen Reisen unterschiedlich intensiv, z.T. aber sehr intensiv gewesen ist. Dann muss man, wie man es aus dem Fernsehen von Gefängnisszenen kennt, durch diverse vergitterte Tore und Drehtüren zwischen hohen Betonmauern durchgeschleust werden. Danach betritt man einen mehrere hundert Meter langen Gang, der völlig vergittert ist. Wie im Zirkus die Löwen durch einen käfigartigen Gang in die Manege laufen, so ähnlich ergeht es dem Einreisenden durch den Grenzstreifen, der Niemandsland ist. Der Blick zurück fällt auf die Stahlbetonmauer von ca. 10 Metern Höhe, Beobachtungstürmen und Stacheldraht. Man betritt das größte Gefängnis der Welt.
Am Ende des Tunnels erfolgt die Kontrolle durch die Behörde der palästinensischen Selbstverwaltung und – nach einer Fahrt mit einem Taxi – eine weitere, meist auch sehr scharfe Kontrolle durch die Hamas.
Dann betritt man ein staubiges, gleißend helles Land. Denn es gibt in Gaza keinen Süßwasserfluss, das Auge sieht kein Grün, der ständige Wind am Meer bedeckt alles mit dem weißgrauen Schleier. Bald empfängt einen der Verkehr: Eselskarren zwischen einer überraschenden Unmenge von Autos, Taxen und Kleinbussen. Die Verkehrsregeln werden meist mit der Hupe geregelt. Der Lärm ist ohrenbetäubend, zumal dazu vor vielen Häusern wegen des ständigen Stromausfalles die Dieselgeneratoren knattern. Und über allem hinweg mehrmals täglich die klagsam klingenden Muezzins aus den Lautsprechern der Minarette, mehrere gleichzeitig, etwas im Kanon versetzt. Kein Park, keine Grünanlagen, keine Gärten, keine Spielplätze. Kleine Kinder können in Gaza Stadt nicht alleine aus dem Haus treten. Jugendliche lungern herum. Die meisten Erwachsenen sind arbeitslos. Einige sitzen den ganzen Tag am Bordstein, in vielen Gesichtern sieht man die Perspektivlosigkeit, die traurigen Blicke.
Die meisten Häuser tragen die Spuren des Krieges mit Einschusslöchern. Viele andere Häuser sind zerbombt und nicht wiederaufgebaut, da Baumaterialien fehlen, wieder andere Häuser sind die Wellblechhütten der Ärmsten.
In diesem Land, das etwa so groß ist, wie die Stadt Bremen, leben fast viermal so viele Menschen, wie in Bremen. Sie können nicht heraus, es gibt keinen Flughafen, der Seeweg ist versperrt. Ein Gefängnis eben. Ohne Hoffnung, ohne Perspektive, gefangen in Schmutz, Trümmern und Lärm!
Seit 2009 hat es zahlreiche Einsätze durch die Freunde der Erziehungskunst dort gegeben. Über vier Jahre wurden die Einsätze vom Deutschen Außenministerium finanziert.
Dort, wo nach dem Krieg (Operation „Gegossenes Blei“, benannt nach einem Kinderlied) 2008/2009 das Elend am größten war, wo Arbeitslosigkeit und Analphabetismus bei 90% liegen, wo keine Anbindung an das kulturelle Leben der Stadt stattfindet, wo der Krieg am schlimmsten gewütet hatte, dort haben die Freunde der Erziehungskunst ein Child friendly space errichtet, Erwachsene Pädagogen angestellt, die sich täglich um die Kinder kümmern konnten, die von uns in Notfall- und Traumapädagogik auf den weiteren Einsätzen immer weiter ausgebildet wurden. Diese Arbeit zeigt, dass Notfall- und Traumapädagogik Erfolgreich ist. Unabhängige Evaluationen haben das bestätigt!
Denn irgendwann kamen auch die Mütter und fragten, was wir mit ihren Kindern machen würden. Sie merkten, dass es ihren Kindern bessergeht und wollten, dass wir auch mit ihnen arbeiteten. Das taten wir auch. Wir richteten Elternnachmittage mit den Müttern ein, an denen wir begründeten, was wir tun, gingen auf deren Fragen ein, die meist pädagogischer Natur waren. Dann aber wollten sie auch, dass wir mit ihnen kreative Übungen machen. Auch das haben wir gerne gemacht. Die erste Aktion z.B. war, dass wir aus Draht Blumen gebastelt haben, die dann mit Gipsbinden umwickelt und zuletzt bemalt wurden. Es war deutlich, wie ungeübt diese Frauen waren und dass es sie große Mühe kostete. Aber sie waren eifrig dabei und am Ende stolz auf das Ergebnis!
Dann kamen die Väter und wollten auch! Denn an ihren Frauen und Kindern bemerkten sie, dass da etwas Gutes und Wichtiges geschah. Wir arbeiteten dann auch mit den Vätern.
Bald änderte sich das Sozialgefüge, die Hygiene, der Lebensrhythmus.
Auf den Einsätzen wurden weitere Pädagogen ausgebildet, so im AlQatan-Zentrum, in Kindergärten und anderen Einrichtungen. Je länger wir dort waren, desto mehr Anfragen kamen, zuletzt auch aus dem Jugendgefängnis, in dem Kinder ab 8 Jahren inhaftiert sind unter grausigen Umständen.
Die Arbeit mit den Kindern beginnt immer mit einem Anfangskreis. Der Kreis gibt halt, er schützt das, was in ihm geschieht, die Außenwelt bleibt draußen, jeder ist gleich wichtig, jeder nimmt zu jedem Kontakt auf. Es wird ein einfacher Spruch gesprochen, der in allen Kulturen möglich ist, aber dennoch die Kinder im Hier und Jetzt ankommen lässt: „Unter uns die Erde, über uns der Himmel, und hier bin ich“, begleitet von einfachen Gesten. Dann folgt ein Lied und als Drittes wird ein Rhythmus geklatscht oder per Bodypercussion vollzogen. Am Ende der gemeinsamen Zeit wird der Kreis wieder gebildet und die Abfolge wird umgedreht: Erst der Rhythmus, dann das Lied und der Spruch zum Abschluss.
Was dann folgt, wechselt. Meist werden Gruppen gebildet, weil es viele Kinder sind. Es wird gemalt oder Formenzeichnen geübt, es gibt Spiele, Reigentänze, Erlebnispädagogik, es werden Geschichten erzählt oder es wird gesungen. Es wird nach Alter geteilt, aber auch nach Sinnhaftigkeit: was braucht wer? Mehr Stütze, wie beim Formenzeichnen, mehr Bewegung, mehr Rhythmus oder mehr Stille. Wichtig ist nur, dass nicht jeden Tag etwas Anderes erfolgt. Wichtig ist ebenso die Konstanz der Bezugspersonen, die regelmäßige Abfolge der gleichen Schritte, die Pausen mit Getränk und Nahrung. Ziel ist es immer, die Erstarrung, die durch den Schock aufgetreten ist, zu lösen.
Lots Weib erstarrte im Schock zur Salzsäule. Dieses Bild beinhaltet auch, dass man Salz im Wasser wieder lösen kann, dass es darum geht, in Bewegung und in Fluss zu kommen– äußerlich und innerlich. Der Terminus der Psychotraumatologie: „freeze“ (eingefrieren) im Schock beinhaltet auch, dass das Eingefrorene durch Wärme wieder aufgetaut werden kann. Das bezieht sich auf die Grundstimmung von Warmherzigkeit und empathischem Zugehen auf die Kinder. Wärme und Lösung kann man schon an den Gesichtern ablesen: Bereits ein Lächeln kann beides beinhalten, das Mitmachen bei Bewegung und Rhythmus, die Freude, die dabei erlebt wird, auch. Diese Freude zu erhalten bedeutet Phantasie der Betreuer, denn ewig gleichbleibende Spiele und Lieder lassen die Freude schwinden, zu häufiger Wechsel irritiert. Es geht immer um den Mittelweg.
Am Schwersten war es bei den Folgeeinsätzen, die örtlichen Mitarbeiter zu motivieren, nicht immer nur das zu wiederholen, was ihnen beispielhaft beigebracht haben, sondern neue Spiele zu ersinnen, neue Lieder und Geschichten aus ihrer Kultur einzuführen, also selber kreativ zu werden.
Als nach vier Jahren ein Abschluss des Projektes erfolgen musste, konnten wir ein buntes Feuerwerk von Spielen, Theaterstücken, Liedern und szenischen Darstellungen erleben, die selbständig erarbeitet worden waren!
Beziehung, Rhythmus, Kreativität, Freude, Ansprechen aller Sinne, Gemeinschaftserleben und Vertrauen sind die Schlüssel. Und das hat Erfolg!
Und das hat die Mitarbeiter überzeugt: Jetzt wird der erste Waldorfkindergarten in Gaza gegründet. Im November 2016 fuhr erneut eine Gruppe in den Gazastreifen, um bei dieser Gründung zu helfen.